Und plötzlich ist man mittendrin… - die Nacht des Terrors in Hanau
Es ist Mittwoch, der 19.02.2020 um kurz vor 22:00 Uhr. Die Besatzungen von acht Mehrzweck- und zwei Notarzteinsatzfahrzeugen sind seit etwas mehr als drei Stunden im Dienst und haben noch gute neun Stunden vor sich.
Dagegen bereiten sich die Kolleginnen und Kollegen von zwei Mehrzweckfahrzeugen langsam auf ihren Feierabend um 0:00 Uhr vor. Etwa die Hälfte der Besatzungen befindet sich gerade im Einsatz – eben business as usual oder anders gesagt: ein ganz normaler Mittwochabend.
Das ändert sich schlagartig, als plötzlich Schussgeräusche durch die Nacht hallen. Kurze Zeit später werden die ersten Rettungsmittel in die Straße „Am Heumarkt“ in der Hanauer Innenstadt alarmiert. Drei Rettungswagen und ein Notarzteinsatzfahrzeug treffen wenig später an der Einsatzstelle ein, die mittlerweile von der Polizei als sicher eingestuft wird. Parallel gehen bei der Zentralen Leitstelle des Main-Kinzig-Kreises in Gelnhausen weitere Notrufe ein, die von einem weiteren Schusswechsel am Kurt-Schumacher-Platz im Stadtteil Kesselstadt berichten. Dorthin werden die drei Rettungswagen aus Maintal sowie ein Notarzteinsatzfahrzeug aus Gelnhausen alarmiert. Im anfänglich festgelegten Bereitstellungsraum werden sich die Maintaler Fahrzeuge nur kurz aufhalten – nach Rückmeldung der ersten Polizeistreifen scheint auch diese Einsatzstelle „sicher“ zu sein.
Während von der Einsatzstelle in der Innenstadt recht schnell die Rückmeldung erfolgt, dass keine lebensrettenden Maßnahmen bei den Betroffenen mehr möglich sind, gestaltet sich die Situation am Kurt-Schumacher-Platz mehr als unübersichtlich. Aufgrund einer hohen Anzahl von Toten und mehreren Schwerverletzten lässt die Besatzung des ersteingetroffenen Rettungswagens frühzeitig das Einsatzstichwort auf „ManV-10“ erhöhen – was einen Massenanfall von bis zu 10 Verletzten bedeutet und damit eine großflächige Alarmierung von Kräften des Rettungs- und Sanitätsdienstes auslöst. Jeweils ein Betreuungs- und Sanitätszug mit je 25 Einsatzkräften sowie Rettungswagen und Notarzteinsatzfahrzeuge aus dem Main-Kinzig-Kreis sowie aus Stadt und Kreis Offenbach werden mobilisiert. Währenddessen hören die bereits vor Ort tätigen Einsatzkräfte einen Passanten schreien, der glaubt, den Attentäter erneut zu erblicken und dies lautstark mitteilt. Was Rettungs- und Polizeikräfte in diesem Moment erleben, wird niemand nachvollziehen können, der nicht dabei war.
Noch während der Klärung der Situation treffen erste Angehörige und Freunde der Opfer ein – und sorgen damit ungewollt für ein weiteres Stressmomentum bei den Rettungskräften, deren personelle Möglichkeiten zu diesem Zeitpunkt noch keine Individualversorgung der bislang registrierten Verletzten zulassen. Diese Individualversorgung wird erst mit Eintreffen der nachrückenden Besatzungen sichergestellt. Am Ende werden drei Schwer-, ein Mittelschwer- und ein Leichtverletzter von den Rettungsdienstkräften in umliegende Krankenhäuser transportiert. Für fünf Personen am Kurt-Schumacher-Platz sowie drei Betroffene am Heumarkt kommt leider jede Hilfe zu spät. Ein Verletzter stirbt zudem nach Einlieferung ins Krankenhaus.
Während vorwiegend ehrenamtliche Kräfte der Sanitäts- und Betreuungszüge gemeinsam mit Notfallseelsorgern die Betreuung der Angehörigen und Freunde übernehmen, treffen die hauptamtlichen Kollegen auf der Hauptrettungswache in Hanau ein. Auch dort erfolgt eine Betreuung durch Notfallseelsorger. Währenddessen übernehmen dienstfreie Kolleginnen und Kollegen, die frühzeitig ihre Hilfe anbieten, die Ablösung der Mitarbeitenden sowie die Reinigung und Wiederindienststellung der Fahrzeuge. Gegen 03:00 Uhr am Morgen dann ein erneuter Schreckmoment. Mehrere Rettungswagen- und eine Notarzteinsatzfahrzeugbesatzung werden in ein Kesselstädter Wohngebiet alarmiert, wo in Kürze ein Zugriff der Polizei stattfinden soll. Hier werden im Verlauf zwei weitere Tote, darunter der Attentäter gefunden. Eine weitere Person wird rettungsdienstlich versorgt und in ein Krankenhaus transportiert.
Am Ende der Nacht sind elf Tote und vier Betroffene mit Schussverletzungen zu beklagen. Während sich die Meldungen in den Medien bereits überschlagen, wird es für die meisten Einsatzkräfte erst im Laufe der folgenden Tage zur Gewissheit: Sie sind Teil eines Attentats geworden, wie man es bislang allenfalls aus den Medien kannte. Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, Manchester, Barcelona, München – um nur einmal die schlimmsten Anschläge in Westeuropa der vergangenen Jahre zu nennen – und nun eben auch Hanau – praktisch das eigene Wohnzimmer.
Was die folgenden zwei Wochen folgt, lässt das unverändert stattfindende Alltagsgeschäft wie in einer eigenen Welt erscheinen. Neben häufigen Einsätzen im Bereich des Kurt-Schumacher-Platzes fordern auch Mahnwachen, Protestkundgebungen und Trauerzüge mit Teilnahme zahlreicher hochrangiger Politikgrößen und damit erforderlichen Sonderbereitstellungen die rettungs- und sanitätsdienstlichen Kräfte in hohem Maße. Dazwischen findet eine strukturierte Einsatznachbesprechung für alle beteiligten Einsatzkräfte statt.
Den „Abschluss“ bildet genau zwei Wochen nach den Anschlägen die zentrale Trauerfeier im Congress-Park-Hanau, die per Videoleinwand sowohl auf dem Markt- als auch auf dem Freiheitsplatz übertragen wird. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier und Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky mahnen in Anwesenheit von Bundeskanzlerin Angela Merkel, zahlreichen weiteren politischen Vertretern und insbesondere den Angehörigen der Opfer an, dass Hass ein Gift sei, das sich zunehmend in der Gesellschaft ausbreite und zu Gewalt, Tod und Leid führe und daher bekämpft werden müsse.
Währenddessen zeigen die Menschen Hanaus großes Mitgefühl und auch eine Welle der Hilfsbereitschaft. Höhepunkt des Ganzen soll ein Benefizkonzert am ersten Märzwochenende sein, für das bereits namhafte Künstler ihr Kommen zugesagt haben. Wenige Tage vor der geplanten Veranstaltung wird in Hanau die erste Corona-Infektion bestätigt. Daraus resultierend erfolgt kurz darauf die Absage des Konzerts.
Zu diesem Zeitpunkt befinden sich die Kräfte des Rettungs- und Sanitätsdienstes bereits mitten im nächsten Ausnahmezustand.